Psychotherapie und Erzählen

Teil 1: Wo bin ich?

Psychotherapie ist Leben im Hoffen. So beschrieb es mir eine befreundete Psychotherapeutin, und dieser Satz überwältigte mich! Meine Gedanken sprangen von Wort zu Wort. Psychotherapie. Hilfe. Dialog. Lebendigkeit. Zukunft. Das gehört also zusammen? Und um den Sinn dieses Satzes besser zu ergründen, formulierte ich bald anders herum: Wenn ich nicht hoffe, wie lebe ich dann?

Wenn ich keine Zukunft sehe, wo stehe ich dann? Wozu brauche ich das Gespräch, wenn ich die Zukunft gar nicht betreten und mich an einer vermeintlichen(!) Gegenwart festklammern möchte? Ohne die geringste Hoffnung wäre das Gespräch sinnlos. Erst die Erfahrung eigener Lebendigkeit führt zur Erfahrung der eigenen Handlungsfähigkeit. Wer handelt, geht in die Zukunft. Deshalb, so verstehe ich es, ist der (nicht nur therapeutische) Dialog das entscheidende Werkzeug, um zukunftsfähig zu sein – um zu wachsen.

„Bei den Romanciers erfährt man zuverlässiger als in psychiatrischen Lehrbüchern, warum Menschen in psychische Krisen stürzen.“

Christian Geyer, „Psychiatrie ist heilbar“ in FAZ.NET vom 27.8.2020

Ich bin weder Psychologe noch Therapeut, doch als Autor trieb mich vor einigen Jahren eine ähnliche Frage um. Wie ließe sich die Befreiung aus der „Volkskrankheit Depression“ aus der subjektiven Perspektive eines Protagonisten darstellen, so dass sie „nacherlebbar“ wäre? Ich begann (aus eigener Erfahrung) zu schreiben und fertigte ein um die andere Skizze an, um schon sehr bald festzustellen, dass der Schlüssel dieses Projekts in der Erzählhaltung lag. Denn ich hatte es plötzlich mit einem Protagonisten zu tun, der einen „inneren Dialog“ führte, der von der Einsamkeit und zugleich von der Sehnsucht nach dem „echten“ Dialog erzählt. Und diese Erzählhaltung des „inneren Dialogs“ stellt schließlich die Bühne, auf der die Hauptfigur Gregor, ein Mann in den Dreißigern, sich auf die Suche nach Beziehungen macht: zu sich selbst, zur Welt und zur unbekannten Marie, die ihn vor eine (für einen unerkannt depressiven Charakter) hakelige Aufgabe stellt: sie lädt ihn in einen Swinger-Club ein. Wie steigt man(n) also in den Ring, wenn man(n) das Schattenboxen bislang nur im Kopf übt? Dieser Konflikt ist Thema des Romans „Wofür wir uns schämen“. Wie kann ich die eigenen Fesseln lösen? Wie kann ich handeln? Wie kann ich wachsen – und lieben?!

Die Scham ist der Strudel, in den die Beziehungsfähigkeit des Menschen eingesogen wird, obwohl wir doch gerade heute der Illusion unterliegen, „schamfrei“ zu sein. Wie kann Befreiung gelingen?

Wo bist du?

Eine einfache Frage. Wir hören sie Telefonierende sagen, wenn sie von ihrer Gesprächspartnerin oder ihrem Gesprächspartner erfahren wollen, in welche Gegend, in welchen Raum dieser Welt sie mit ihrem Telefonanruf vorzudringen meinen.

Ich bin in der U-Bahn. Auf dem Eiffelturm. Auf einem absurd hohen Gipfel, der nun auch über das Mobilfunknetz erreichbar ist. Jedenfalls bin ich nicht in einem Funkloch.

„Der Weg des Menschen“ ist eines der Bücher, die mich früh in meinem Leben so nachhaltig beeindruckt haben, dass sie bis heute mein Denken beeinflussen. Martin Buber beschreibt in sechs Abschnitten die seelischen Stationen, an denen ein Mensch reift, scheitert, schaut und wächst. Der erste Abschnitt dreht sich um die Frage: „Wo bist du?“

Die Verstreuung unserer Gesprächspartner über den Globus (und ihre Erreichbarkeit dort) ist so beeindruckend wie unser Interesse an dieser Frage. Wo bist du (wo ich gerade nicht bin)?
Welchen Unterschied macht es beispielsweise, ob ich diese Zeilen an dich (liebe Leserin, lieber Leser) niederschreibe in einem kleinen Hinterzimmer, das spärlich von einem Kohlenofen beheizt wird, oder im Liegestuhl, an einem warmen Südseestrand dem Rauschen der Wellen lauschend? Verändert sich dadurch der Sinn meiner Worte?

Es scheint also noch eine weitere, ungestellte Frage hinter der nach dem Standort zu liegen.

Kein Gespräch ohne (Ver-) Ortungsfunktion

In einem anderen Buch Martin Bubers, seinem zentralen Werk „Ich und du“, zeigt er, dass in der Verortung des Menschen der höchste Zauber und das tiefste Dilemma der eigenen Existenz nebeneinander liegen. „Ich werdend spreche ich Du“, schreibt Buber dort, und eine Idee des Satzes lässt sich herausschälen, wenn wir ihn, seiner eigenen Logik folgend, befragen:

Wer bin ich, wenn ich nicht mein Gegenüber anspreche? Wenn ich nicht in den Dialog mit „dir“ trete? Gibt es dann kein Ich? Bin ich dann ein Niemand? Oder liegt der Fokus Bubers Satz auf dem Werden? Wenn ich nicht werde, dann scheine ich also irgendwie unvollständig und statisch zu sein. Kein vollständiges Ich also ohne Ansprache eines Du.

Der Wille zur Ansprache meiner oder meines Nächsten ist die Grundbedingung für mein eigenes persönliches Sein und Werden. Es zählt der Wille zum Dialog, und es zählt die Art und Weise, wie ich das Gespräch führe. Denn auch wie ich „Du“ spreche, formt mich. Noch einmal der Satz Bubers: „Ich werdend spreche ich Du.“

„Wofür wir uns schämen“ ist vor allem ein Roman über die Suche nach dem Dialog mit Gegenwart und Vergangenheit. Das reflektieren die wechselnden Erzählhaltungen und das Spiel mit der Zeit.

Vor diesem Hintergrund erhält die Frage „Wo bist du?“ eine viel größere Bedeutung: Wir wollen uns durch die Vergegenwärtigung des Angesprochenen und seines Standorts ebenfalls wiederfinden. „Bist du vielleicht an einem erstrebenswerteren Ort als ich es bin?“ „Bist du weitergekommen als ich?“ „Wie bist du dorthin gekommen?“

Wo in meinem Leben stehe ich, wenn du dort stehst?

ENDE Teil 1, weiter geht es mit Teil 2 und der Frage, weshalb ein Informationsaustausch noch kein Dialog ist, in: „Die unerkannte Depression“.

Zum Thema Scham s. übrigens auch meinen Beitrag „Schämt euch!“

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