Die unerkannte Depression

Psychotherapie und Erzählen, Teil 2

Zuerst Teil 1 lesen?

Die Frage „Wo bist du?“ hat also eine große Bedeutung: Wir vergegenwärtigen uns selbst im angesprochenen Du. Was aber, wenn die Kommunikation „nach außen“ nicht klappt?

Bild aus der Umschlaggestaltung: Katja Eggli, Text Tomas Blum

Gregor, die Hauptfigur des Romans „Wofür wir uns schämen“, befindet sich an einem Ort, an dem er, wie es im ersten Satz heißt, „sein halbes Leben lang lächelt“. Er lächelt nicht, weil die Welt für ihn so nett und lustig wäre, sondern er setzt vor den Mitmenschen ein freundliches Gesicht auf. Denn die andere Hälfte der Zeit lächelt er ganz und gar nicht. Gregor ist am Ausgangspunkt des Geschehens an einem Ort, an dem sehr viel gesprochen wird und an dem es kaum einen Dialog gibt. Er arbeitet als Projektleiter ausgerechnet in einer Kommunikationsagentur. Gregor kann sich nicht entwickeln, weil die Gesprächsangebote nicht zum Dialog führen, sondern bloß zum Informationsaustausch. Wo kein Du ist, dort versiegt die Hoffnung. Wo keine Hoffnung wächst, dort verkümmert das Ich. Zu Gregors großem Glück „passiert ihm“ diese Begegnung mit einer Arbeitskollegin. Sie lädt ihn (ihrerseits aus Unsicherheit) in einen Swinger Club ein. Diese plötzliche Annäherung zwingt Gregor dazu, aus der statischen Deckung herauszukommen. Wie aber kommt einer aus der Deckung, der schon lange nicht berührt hat und schon lange nicht berührt wurde?

Photo by Elina Krima on Pexels.com

„Wer ist Marie? Du stellst dir diese Frage in der Art einer Ermittlung. Du siehst dich als Kommissar, du kennst genügend Kommissare aus Netflix, und du heftest ein Schwarzweißfoto von Marie an eine imaginäre Korkwand und betrachtest dieses Bild von ihr, das schon einmal eines ihrer hervorstechenden körperlichen Merkmale verschweigt, nämlich ihre Rothaarigkeit. Um zu verstehen, wer sie ist, scheint dir also die Haarfarbe unwichtig zu sein, sonst hätte deine Phantasie ein anderes Bild gewählt, um dieser Frau auf den Grund zu kommen. Als du damals an ihr Bett trittst, erscheint sie dir eher als Häuflein, als weggeworfene Holzpuppe, und hier ist ihre letzte Chance, sich Leben einhauchen zu lassen.“

Auszug aus: Tomas Blum, „Wofür wir uns schämen“

Gregor hat sich in seiner bisherigen Existenz so ausgeklügelt eingekapselt, dass der herbeigesehnte Austausch zwischen Ich und Du hauptsächlich im Sandkasten des eigenen Denkens stattfindet. Und dieser Sandkasten ist eine Schmuddelkiste. Denn in ihm liegen gleichermaßen all die Spielzeuge, die Instrumente der Sehnsucht wie der Furcht, und werden von der Erinnerung aufgewühlt und wieder vergraben. So ein Gregor agiert in der Gegenwart immer aus diesem Sandkasten heraus. Dieser Standort ist mit seinem Sammelsurium an Erinnerungen, Empfindungen und Ängsten zugleich seine Zeitmaschine. Der Wind aus der Gegenwart spritzt Gregor permanent den Sand der Vergangenheit in die Augen. Um dort herauszukommen, muss Gregor in den Dialog finden. Er braucht dringend ein Du.

Wofür wir uns schämen

Bei der Konzeption des Romans war ich beseelt von der Idee Martin Bubers: kein Ich ohne Du (wobei meine Vorstellung des Grundgedankens oben Buber natürlich nicht gerecht wird). Ich wollte erfahren (weil Schreiben für mich immer zuerst ein Prozess des Erfahrens ist), wie dieses dialogische Prinzip funktioniert für eine Figur, die nicht aus sich herauskommt – etwa weil die Vergangenheit sie gelehrt hat, dass es riskant sein könnte, sich schutzlos auf andere Menschen einzulassen; weil sie traumatisiert wurde. Beim Schreiben wurde mir schnell klar, dass so ein Mensch sich zuerst „mit sich selbst unterhalten“ würde. Das Bild des Sandkastens bringt es auf den Punkt. Hier wird teils archäologisch aus- und wieder eingegraben; gleichzeitig ist der Sandkasten ein Ort der Kindheit. Die „Erwachsenen“ rufen uns von außerhalb an, aber sie intervenieren auch, sie dringen ein, sie verlassen uns. Eine solche literarische Figur führt die Gespräche der Gegenwart und der Vergangenheit gleichzeitig.

Der Schauspieler Maximilian Wrede beim Dreh zum Buchtrailer von „Wofür wir uns schämen“. Hier geht es zu seinem Castforward Profil.

Die Erzählhaltung des inneren Dialogs

Die Erzählhaltung reflektiert folglich die Besonderheiten der Figur durch eine Modifikation dessen, was in der Literatur als „Innerer Monolog“ bekannt ist, zum „Inneren Dialog“. Indem der denkende Gregor sich selbst als „Du“ adressiert, spricht uns gleichsam die erzählende Instanz (die uns Gregors Denken präsentiert) direkt als Leser an. Ein Beispiel:

Du weißt genau, wie es ist, wenn du vom Fahrrad fällst und dir das Knie aufschlägst.

Hier wendet sich der vom Autor ersonnene Erzähler direkt an dich, eine Leserin, einen Leser. Diese Erfahrung teilen wir, obwohl sie für jeden anders aussieht. Wir beide sind verletzlich und schmerzempfindlich. Nun bette ich denselben Satz ein in einen erzählerischen Kontext:

Die Chefin will, dass ich den Kollegen in der Abteilung mal so richtig einheize. Sie glaubt wohl, sie kann alles mit dir machen. Aber du bist kein Anfänger mehr. Du weißt genau, wie es ist, wenn du vom Fahrrad fällst und dir das Knie aufschlägst.

Derselbe Satz dient hier als Teil eines Gedankenstroms einer Figur, die unter Druck gesetzt wird. Beim Lesen können wir diese Figur beobachten und uns vielleicht mit ihr identifizieren. Wir erleben den Druck durch die Fiktion, deren Bestandteil die Figur ist. Gleichzeitig will uns die erzählende Instanz, an der Figur vorbei, direkt erreichen: Du weißt, wie schmerzhaft das ist, wenn das Knie blutet. Diese Erzählhaltung bewirkt einen eklatanten Konflikt, in dem Figuren sowie Leserinnen und Leser miteinander verwickelt werden. Denn: indem sich der Erzähler direkt (per Du) an uns Lesende wendet, distanziert sich die Figur, deren Gedankenstrom wir doch eigentlich folgen, mit demselben Du von sich selbst.

Gregor und Marie stolpern auf dem Weg in den Swinger-Club über die eigene Vergangenheit. „Wofür wir uns schämen“ ist ein Roman über Beziehungen und die Befreiung. Umschlaggestaltung: Katja Eggli.

Dort, wo der Erzähler mit den Lesenden in einen Dialog tritt, scheitert die Figur verzweifelt am Zwiegespräch. Wie kann Gregor aus dem inneren Dialog herausfinden in das „äußere“, wirkliche Zwiegespräch?

Darum geht es in Teil 3: Geschlechterrollen sind Scham-Gehege

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