Eine Betrachtung
Ein guter Freund schenkte mir ein Olivenbäumchen. Es ist mein erstes Olivenbäumchen, ich war nie zuvor für eines verantwortlich, und ich wusste überhaupt nicht, was Olivenbäume so brauchen. Im Herbst vergilbten plötzlich einige Blattspitzen, obwohl ich doch immer für Wasser gesorgt hatte. Ich war besorgt und ratlos. Mein Bäumchen verlor nach für nach seine Blätter. Das Geklicke im Internet förderte widersprüchliche Tipps zutage. Also betrachtete und befühlte ich das Bäumchen, steckte den Finger in die Erde und wusste keinen Rat. Den fand ich erst bei der Fachfrau in der Gärtnerei. Ich hatte im vorigen Frühjahr beim Umtopfen die falsche Erde verwendet. Olivenbäume sind ja nicht hier heimisch, sie haben andere Bedürfnisse als heimische Pflanzen.

Im vergangenen Frühjahr machte ich es also „richtig“, und siehe da. Das Bäumchen wächst und wächst.
Ansprechbarkeit ist die Offenheit für die Gegenwart, für Veränderung. Ich sah, dass der Baum sich veränderte. Ich wollte, dass es dem Baum gut geht. Ich will.
Im Wollen treffe ich eine Entscheidung: Ich will den Baum pflegen. Dasjenige tun, das dem Baum gut tut — nicht notwendiger Weise mir selbst. Glücklicherweise beflügelt mich die Pflege, gibt mir vielleicht einen Sinn, so dass sie auch mir selbst gut tut. Denoch handele ich im Interesse des Baumes. Nicht ich stelle mich in neue Erde, sondern diese Behandlung lasse ich dem Baum angedeihen. Ich will, dass der Baum wächst. Ich arbeite in der Welt des Baumes. Ich kümmere mich um diesen Baum, weil ich mich von ihm habe ansprechen lassen. Ich kümmere mich nicht wie ein Arzt, der eine Wunde vernäht, sondern wie ein Freund. Ich nehme mich des Baumes an, obwohl er scheinbar nichts für mich tut. Beständigkeit. Ich will mich auch morgen um den Baum kümmern. Selbst dann, wenn er niemals Früchte trägt.
Ansprechbarkeit ist die Bereitschaft für Geheimnisse, die keine potenziellen Antworten sind.
Ohne Ansprechbarkeit kein Erkennen. Ohne Erkennen kein Wollen. Ohne Wollen keine Entscheidung. Ohne Entscheidung keine Beständigkeit, sondern nur hier und da.
Unverbindlichkeit ist die Vorstufe zur Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist das Gegenteil von Liebe: Unansprechbarkeit. Deshalb sage ich hier einen vielleicht moralisch-bitter klingenden Satz: Liebe ist Arbeit in der Welt. Erschaffen. Erschaffende stellen nicht nach jedem Handstreich eine Rechnung, sondern sie erschaffen, weil sie erschaffen wollen. Weil sie „mehr-lieben“.
Liebe ist Wollen, Entscheiden und Beständigsein. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, diese drei setzen grundlegend die Ansprechbarkeit voraus. Ansprechbarkeit ist die Offenheit für Unerwartetes. Ansprechbarkeit ist die Bereitschaft für Rätsel. Für das Geheimnis, nicht als potenzielle Antwort (nicht als gelöstes Rätsel), sondern als unerwarteten Impuls. Der Impuls trifft mich, ich bin scheinbar passiv, doch lasse ich es zu, dass er micht trifft.
Ich fürchte mich ein wenig vor dem Winter. Ich habe mein Bäumchen hereingeholt. Drinnen wird es ihm schlechter ergehen, schon weil er in diesen Breiten nicht heimisch ist…