Die ökonomische Macht der Gefühle

Zum Problem der intrinsischen Motivation.

Weshalb es tragisch ist, dass Selbsterkenntnis keinen Marktwert hat. Und warum nochmal dürfen wir uns schämen?

Mir wird im Detail erklärt, wie ich mir den Mann vornehmen soll: „Richte deinen ganzen Hass auf ihn.“ „Dieser beschlipste Tölpel steht für die Lächerlichkeit in der Welt.“ „Knöpf ihn dir vor.“ „Zeig ihm, dass er ein Schlappschwanz ist.“ Kurz: „Klatsch ihn an die Wand!“

So soll ich ihn feuern!

Wir stehen versammelt um den Stuhl herum, auf dem verschüchtert der Kollege sitzt. Das Lächeln in seinem schmalen Gesicht signalisiert peinliche Hilflosigkeit. Er hat alles gehört und weiß, was jetzt passiert. Er wusste, worauf er sich einlässt.

Krause in Urs Widmers „Top Dogs“ schlägt zu: „Sie sind gefeuert!“ Ich spiele den Krause und komme grad in Fahrt.

Alle lachen plötzlich. Auch Patrick, der Mann auf dem Stuhl, lacht.

„Für heute ist Schluss mit Proben!“ Der Regisseur klatscht in die Hände. „Wir sehen uns übermorgen wieder! Schaut euch euren Text noch einmal genau an! Bis Freitag muss jede Zeile sitzen! – Und, Bernd: Du musst noch mehr aus Dir rauskommen!“

Rauskommen … Ich bin doch bloß Darsteller in einem Theaterkurs. Urs Widmer: „Top Dogs“. In dem Theaterstück sitzt eine Gruppe von einst hoch-bezahlten Managern in einem „Offboarding-Seminar“ und wird unter Aufsicht von zwei reizenden Lebensberaterinnen an ihre neue Rolle im Leben herangeführt: Sie werden alle nicht mehr gebraucht, und sie schämen sich dafür, dass sie nun überflüssig sind. Das Stück ist tragisch und sehr komisch, denn die Damen und Herren benötigen eine Ewigkeit, bis sie das realisieren, was sie bislang schamhaft aus ihren Leben ausgeblendet haben: Sie sind gefeuert. Ja, es gibt Momente, da reißt dir das Leben den Stuhl unterm Hintern weg. Das Publikum wird sich bei der Premiere, ein paar Wochen später, köstlich über die Abstürze der Manager amüsieren. Und ich spiele ausgerechnet den Krause …

Ein befreundeter Schauspieler verfolgt die Proben aus den leeren Publikumsreihen. Wir gehen nach dem Unterricht noch eine Kleinigkeit essen. Es hat geregnet. Die Luft riecht süßlich nach den blühenden Linden, die entlang der Straße stehen. Die Pfützen auf dem Asphalt sind schaumig vom Blütenstaub. Wir sprechen beim Bier über die Anweisungen des Regisseurs. Überheblichkeit und sogar Hass zu spielen, ist gar nicht so leicht. Ich gestehe mir ein: Die menschliche Eruption, die in dieser Szene auf der Bühne gezeigt werden soll, macht mir Angst. Schließlich gibt man etwas von sich preis, was man nicht unbedingt zeigen will. Für das man sich schämt.

Ich bin kein Schauspieler. Der Ausflug auf die Bühne ist für mich ein Experiment. Eine Ablenkung vom Berufsalltag. Seit zwanzig Jahren gehe ich als Auftragsschreiber in Konzernen und Organisationen ein und aus. Der halbjährige Abendkurs mit professionellen Trainern soll für ein wenig Abwechslung sorgen. Und jetzt schicken mich die Proben für das Abschlussstück vor Publikum zurück ins Geschäftsleben.

Im Stück geht es um Konkurrenz. Es geht um Überheblichkeit, die mit Gebäcktellern, Beamern und Konferenztischen zugestellt wird. Es geht um Scham. Bockige Erwachsene stellen sich als funktionierende Teilnehmer am Berufsleben zur Schau. Und die Fassade bröckelt.

Die ökonomische Macht der Gefühle.

Ich kannte mal einen, der trug in Meetings unter Schlips und weißem Business-Hemd ein weißes Shirt mit weiß aufgedruckten Lettern: „Fuck you“. Weiß auf weiß. Damit im Geschäftsalltag nicht durchschimmert, welche Einstellung man auf dem Herzen trägt. Heimlich alles irgendwie scheiße finden.

Während meiner Arbeit für die Gallup GmbH, eines Unternehmens in der Forschung zum Thema Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit, produzierte ich im Auftrag eine Podcast Folge zum Engagement-Index. Damals hatten der (jährlichen) Umfrage zufolge 88% der Angestellten eine geringe Identifikation mit ihrem Unternehmen und von diesen 88% empfanden 20% überhaupt keine Bindung zu ihrem Arbeitgeber oder handelten sogar aktiv gegen dessen Interessen. Seither ist diese Zahl gesunken, sie pendelt so um die 15%. Die Zahlen zeigen: Emotionen spielen eine große Rolle und haben wirtschaftliche Auswirkungen, sowohl auf der betriebs- als auch auf der volkswirtschaftlichen Seite.

Broschüre der Gallup GmbH aus dem Jahr 2008, S. 11.

Eine Rolle ist keine schamfreie Zone.

Das große Missverständnis beim Rollenspiel besteht in der Vorstellung, die Gefühle seien wahlweise getrennt von der eigenen Persönlichkeit, man müsse nur das richtige Hemd überstreifen, und so könne man eben alles erreichen. Eine Vorstellung, die jahrzehntelang propagiert wurde. Ein derartiges Rollenspiel reißt die Gefühle aus ihrem Zusammenhang und erzeugt die Vorstellung, man könne sie auf Kommando herbeiführen. Ihr seelischer Zusammenhang ist unerwünscht, weil er unpraktisch ist. Der Humus der Gefühle ist nicht mehr das lebendige Leben. Sondern es geht um potentielle Verfügbarkeit. Ich kann Gefühle kaufen. Deshalb muss ich mich auch für nichts mehr schämen. Ich kann alles ausprobieren. Und nebenbei offenbart sich ein neues Selbstverständnis: Je mehr ich mir aneigne, desto mehr bin ich. Es ist die Vorstellung eines schamfreien Selbst, dem nichts fremd und nichts peinlich ist. Man fühlt sich versetzt in Huxley’s „Schöne, neue Welt.“

Spielt also heute, in einer Zeit ohne Tabus, die Scham keine große Rolle mehr? Da überraschen allerdings die lauter werdenden Stimmen aus der Psychologie, dass Menschen sich heute zwar „anders“, jedoch mehr schämen als zuvor. Was geht da vor?

Menschen funktionieren nicht. Zuweilen schämen sie sich.

Das seit der Industrialisierung vorherrschende Menschenbild ist das des Beherrschers. Nach biblischer Zeitrechnung geht das noch anders zu. Wenn ein Jona sich dem göttlichen Plan widersetzt, dann kommt ein Wal vorbei, um ihn wieder auf die Spur zu bringen. Eine Zeit lang im eigenen Saft schmoren im stinkigen Bauch eines Wals führt zu Selbsterkenntnis und die führt zurück zur Erfüllung der aufgetragenen Aufgaben. Genug geschämt.

Im dampfgetriebenen 19. Jahrhundert läuft das schon anders ab. Ein herrschsüchtiger Kapitän Ahab versteht nicht viel von Mitarbeiterführung und versammelt seine Mannschaft hinter sich, um Jagd auf den Wal zu machen und ihn abzuschlachten. Das (wie wir alle wissen) schlägt fehl. Das weiße Schicksal ist mächtiger, und die irregeleitete Mannschaft wird von Beherrschern zu Beherrschten. Bis auf Ismael bezahlt sie ihre Verblendung mit dem Leben.

In der "Hamletmaschine" lässt Heiner Müller seinen Hamlet sagen: "Mein Gehirn ist eine Narbe. Ich will eine Maschine sein." Ich grüble nicht, ich halte mich nicht mit Entscheidungen auf, die sowieso zu nichts führen, ich will überhaupt nicht mehr fühlen, es (in mir) soll funktionieren. Dieser Blick auf das Individuum erklärt das Leben zum Virus.

Das 20. Jahrhundert zieht die Schlinge enger. Wenn man sogar von den eigenen Gefühlen entfremdet ist und der Wille zur Beherrschung alles beherrscht, dann scheint der Einzelne umgeben zu sein von dunklen Mächten. Kafkas Prozess zeigt das mustergültig. Das undurchsichtige Gesetz in Kafkas Roman „Der Prozess“ wird erlebt als endloses Labyrinth der Fremdbestimmtheit. Die Logik des undurchsichtigen Labyrinths könnte in die Unendlichkeit führen: Daher ist die Exekution des Einzelnen nur folgerichtig. K. stirbt wie ein Hund, heißt es da, nicht wie ein Mensch. Der Tiervergleich unterstreicht die menschliche Katastrophe. Der Entfremdete hält seine menschlichen Gefühle für tierisch. Und das „schlimmste“ dieser Gefühle scheint so übermächtig zu sein, dass es unabhängig vom Menschen existiert wie das dunkle Gesetz selbst; Kafkas Roman endet mit den Worten: „(…) es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ In Kafkas Universum existieren keine Wale. Sogar die Scham ist abgenabelt vom völlig orientierungslosen Individuum. Sie beherrscht alles.

„Der Prozess“. Der Schlusssatz in Kafkas Manuskript: „(…) es war, als sollte die Scham ihn überleben.“

Twittern gegen Kafka.

Wie sieht es heute aus? Zumindest müsste man K. kein Messer mehr durchs Herz rammen, sondern er ließe sich per Twitter-Shitstorm bequem von zuhause aus erledigen. Der abgenabelte Mensch muss mitlaufen oder sterben. Eins oder Null. Willkommen im 21. Jahrhundert.

Im Netz droht uns die Beschämung durch willkürlich gebildete Allianzen, die sich als mediale Pranger erweisen können. Das Gesetz ist nicht mehr die dunkle Macht der Entfremdung, sondern die blindlings vom Menschen selbst bediente Technik, die ich willkürlich als meinen vermeintlich digitalen Nächsten erlebe, der mich mit seiner Smartphonekamera, durch einen Shitstorm oder anderweitig erwischt. Das konditionierte Ich rechnet jederzeit mit der Bloßstellung und benutzt seinerseits die Beschämung als Werkzeug im Konkurrenzkampf. „Fremdschämen“ ist ebenfalls eine Vokabel der Bloßstellung, die auch noch Anstand behaupten will. „Shaming“ ist eine andere Vokabel. Sie sind der hämische Ausdruck eines Unwillens zum Dialog.

Für derlei Moralapostel gilt nicht die Vernunft, sondern die vermeintliche Bezugsgruppe. Dem Betroffenen bleiben nur zwei Alternativen: Mitmachen oder Beschämt-werden. Folgen oder Entfolgt-Werden. Der Fortschritt vom 20. ins 21. Jahrhundert liegt also darin, dass die kafkaeske Undurchschaubarkeit „des Gesetzes“ noch übertrumpft wird durch die Korrumpierbarkeit meines Ichs durch den vermeintlich digitalen Nächsten. Vernunft, Technik und Überheblichkeit verschmelzen zur Willkür, die gegen den Einzelnen gerichtet ist. Und wir entfernen uns nur weiter von uns selbst: Obwohl wir heute Freiheiten genießen, die vor hundert Jahren schier undenkbar waren, leiden wir unter der Angst vor dem Kontrollverlust.

Intrinsische Motivation hat sehr viel mit dem Bauch zu tun.

Heute verbringen wir nicht mehr so gern die Zwischenzeit zwischen den Aufgaben, die der Berufsalltag an uns stellt, im Bauch von Walen – wir schämen uns nicht mehr, sondern wir schlüpfen in unsere Rolle; wir halten das Steuerrad selbst in der Hand. Die Ironie dabei ist: Weil wir nach Beherrschung streben bis ins Kleinste, scheinen wir ständig die Kontrolle zu verlieren.

Schauspielprofis wissen genau, dass es beim Rollenspiel weder um wahlfreie Verdrängung noch um Aneignung geht, sondern um die Integration von Gefühlen. Eines der mächtigsten Gefühle ist die Scham. Wir schämen uns sogar für die Scham. Ironischer Weise wird dem Thema Scham (vielleicht deshalb?) erst seit etwa 30 Jahren auch wissenschaftlich die gebührende Aufmerksamkeit zuteil.

Scham ist zutiefst menschlich; wer in einen Wal verschlagen wird, gelangt zuweilen an neue Orte! Andere zu beschämen offenbart die unproduktive Häme und Überheblichkeit unserer Zeit; sie sind häufig genug ein Ausdruck dafür, dass uns das Interesse am Dialog verloren geht, weil wir nach Kontrolle streben bis ins Kleinste.

Es ist schon eine Ironie, dass wir gleichzeitig den Verlust an innerer Motivation und Freude erleben als Kontrollverlust.

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