Identität und Massentauglichkeit

Ein Plädoyer fürs Lesen

Montaignes „Essais“ und der Buchdruck, Teil 1

Lesen und Publizieren sind miteinander verbunden. Das gehört nicht erst zum Selbstverständnis des Users im Web 2.0, es ist die Frucht einer Erfindung, die vor 500 Jahren bloß das Schönschreiben verbessern wollte. Der Buchdruck legte den Keim für die Demokratisierung des Wissens und die aus ihm erwachsenden gesellschaftlichen Umwälzungen, während Gutenberg selbst keine Vorstellung davon hatte, dass seine technische Innovation eine inhaltliche Revolution bewirken würde: Der Buchdruck brachte eine neue Art von Leserschaft hervor; ihr voraus gehen neue Inhalte und folglich ein neuer Typus des Autors. Dass für uns heutzutage Lesen und Publizieren innerhalb desselben technischen Mediums verknüpft sind, ist die Konsequenz des handlichen Buchformats, das erst durch den Buchdruck serienreif wurde.

Michel de Montaigne, „Essais“, Frankf./M.: Eichborn 1998. Eine traumhaft schöne Ausgabe (herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger), allerdings kein handliches Buch! Zur Erläuterung s. Teil 2.

Montaignes „Essais“

Ich möchte das illustrieren an einem besonderen Werk des 16. Jahrhunderts: Michel de Montaignes „Essais“ aus dem Jahr 1580 geben ein frühes und programmatisches Beispiel für die neue Beziehung zwischen Autor und Leser. Der Medientheoretiker Marshall McLuhan charakterisierte diese Beziehung mit den Worten:„Jeder, der lesen kann, lebt zumindest in der Illusion, mit jedem, der schreibt, gleichwertig verbunden zu sein.“ Walter Benjamin konkretisiert in seinem Werk „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“: „Der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden.“ Wie geht das vor sich? Folgen wir den Gedanken eines Buchautors der ersten Stunde.

Die Erfindung des Buchautors

„Mein Gedächtnis pflegt mich derart im Stich zu lassen, daß ich schon mehrfach Bücher als mir neu und unbekannt in die Hand nahm, die ich einige Jahre zuvor sorgfältig gelesen und sogar mit eignen Anmerkungen vollgekritzelt hatte. Um dieser Schwäche ein wenig abzuhelfen, habe ich es mir seit einiger Zeit zur Gewohnheit gemacht, am Schluß jedes Buchs (freilich nur bei jenen, mit denen ich mich kein zweites Mal abgeben will) das Datum, da ich die Lektüre beendete, sowie mein zusammenfassendes Urteil darüber einzutragen, auf daß ich mir so zumindest den beim Lesen von der Wesensart des Autors gewonnenen allgemeinen Eindruck jederzeit in Erinnerung rufen könne.“

Den Worten Montaignes, nachzulesen in der Übersetzung von Hans Stilett, folgt genau dieses „zusammenfassende Urteil“, das wiederum einem Leser (des Autors Montaigne) präsentiert wird. Montaigne bedient sich ohne wissenschaftlichen Anspruch der Werke anderer Autoren und führt doch, auf genau diese Weise, einen neuen Maßstab ein. Diese Umbewertung in Bezug auf Inhalt und Methodik der Erzählung begründet einen neuen Typus des Autors, der eine Zäsur setzt im Vergleich zur bis dato zwei Jahrtausende währenden alphabetischen Manuskriptkultur. Psychologisierend ließe sich zusammenfassen: die Neuerung liegt in der Individuation des Lesers zum (potenziellen) Buchautor. In Montaignes Worten: „Denn in welcher Sprache meine Bücher auch mit mir reden, ich rede mit ihnen in der meinen“.

Die Kompetenz des Autors

Montaigne kultiviert eine neue Erwartungshaltung an die Lektüre, wenn er unterstreicht, wie neugierig er darauf sei, „die Seele und unverfälschte Denkweise“ seiner Autoren kennenzulernen. Den Gegenstand des Erzählten rückt er in den Hintergrund zugunsten des Erzählenden. So heißt es an anderer Stelle:

„Unter den Geschichtsschreibern sind mir die Biographen am liebsten, weil sie sich mehr die Absichten als die Ereignisse angelegen sein lassen: mehr das, was aus dem Innern des Menschen kommt, als das, was ihm von außen widerfährt.“

Der Leser Montaigne erwartet durchaus Kompetenz aus erster Hand, doch sein vordergründiges Interesse ist diese erste Hand — so wird der Autor Montaigne seinem Anspruch gerecht, indem er als höchsten Maßstab des Schreibens programmatisch sich selbst setzt. Bereits im Vorwort erfährt der direkt angesprochene Leser: „Ich will (…), daß man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. (…) Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs“.

„Wenn ich also auch ein Mensch bin, der einiges gelesen hat, so doch einer, der nichts behält.“

Rundum nackt!

„Dies hier sind meine persönlichen Überlegungen, durch die ich nicht die Kenntnis von Dingen zu vermitteln suche, sondern von mir. (…) So achte man nicht auf den Stoff, sondern auf die Form, in der ich ihn wiedergebe: plaudernd, reflektierend und bald fürs Pro plädierend, bald fürs Kontra.“

Die hier gebotene Verlagerung der Autorenkompetenz aufs Erzählerische, also hin zur subjektiven Perspektive, bedeutet keineswegs den Untergang des Abendlandes, im Gegenteil ist sie durchströmt vom Geist der Renaissance. Denn der Buchdruck begründet die Bühne der Belletristik, in deren Mittelpunkt der Autor als subjektiver Erzähler steht — übrigens zur selben Zeit, in der die Wissenschaft den Menschen aus dem Mittelpunkt des Universums verjagt.

Belletristen bedienen sich

Der neu gewonnene Standpunkt schlägt sich mit dem Aufkommen der Zentralperspektive auch visuell nieder in der Malerei der Renaissance. Montaignes Standpunkt ist offenbar: er steht in seiner Privatbibliothek — und bedient sich freimütig: „Bei meinen Zitaten prüfe man, ob ich sie so zu wählen wußte, daß sie die Aussagekraft meiner eignen Erfindungen steigern; denn ich lasse andre sagen, was ich weniger gut zu sagen vermag (…). Auch bei den Gedanken und Erwägungen, Argumenten und Vergleichen, die ich auf meinen Acker verpflanze und mit den meinen vermische, habe ich zuweilen ihren Urheber absichtlich verschwiegen, weil ich (…) den Kritikern eine Falle stellen wollte (…).

Ich möchte, daß diese Kritiker dem Plutarch einen Nasenstüber auf meine Nase verpassen; ich möchte, daß sie, indem sie in mir den Seneca verunglimpfen, sich die Zunge verbrennen. Hierzu aber muß ich diese großen Namen ohne Nennung vorschicken und meine Unzulänglichkeiten dahinter verstecken.“

In der Manuskriptkultur war der Brauchbarkeitswert von Schriften ein wesentlicher Faktor. Für Montaigne liegt die „Brauchbarkeit“ in der Unterhaltung und (mehr noch als in der Erkenntnis) in der Selbsterkenntnis: „So sollen denn meine Meinungsäußerungen nur das Maß meiner Sehkraft offenlegen, nicht das Maß der Dinge.“

Montaigne war kein Blogger

Montaigne enthüllte ein Konzept des modernen Autors, indem er den modernen Leser verkörperte. Ihm gelang die Sensibilisierung für verborgene Regungen der Seele, dabei berührte er sogar die Geheimnisse des Unterbewussten. So wenig er sich selbst der Objektivität verpflichtet, liefert er doch eine empirische Grundlage zum Studium menschlicher Identität. Der Buchdruck lieferte dazu das Werkzeug, indem er Textsorten hervorbrachte, die, ohne Vermittlung eines Vortragenden, Gedanken scheinbar übertragen. „Deshalb“, so Montaigne, „habe ich keinerlei Gewissheit zu bieten, es sei denn darüber, welchen Stand die Erkenntnis meiner selbst zur Stunde erreicht hat.“

Blogger sind keine Montaignes

Die durch den Buchdruck ermöglichte Handlichkeit des Mediums Buch bringt das stille Lesen als fremden und gleichermaßen eigenen Bewusstseinsstrom hervor, der Leser und Autor miteinander verbindet: Das aufkommende Bewusstsein des Einzelnen als Leser ist deshalb untrennbar mit der Geburtsstunde der Massenmedien verbunden. Auf den ersten Blick scheint darin ein Widerspruch zu liegen: Der Autor eines Druckwerkes schreibt für (später sogar mit) eine(r) Maschine, die für hohe Druckauflagen konzipiert ist, wohingegen seine Botschaft dahin tendiert, immer persönlicher zu werden. Das moderne Konzept des Autors reifte mit der Massentauglichkeit des Mediums, für das er schrieb. Und dennoch macht das aus heutigen Bloggern noch lange keine Montaignes. Teil 2 geht der Frage nach, warum das so ist.

Teil 2 lesen.

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