Die Furcht vor dem Mangel

Was uns von den Diskussionen ans Ohr dringt, ist Zeugnis der Aneignung. Die eigene Erfahrung ist zu diffus geworden, um sich auf sie zu beziehen. Erfahrung ist vielmehr die Erfahrung aus dem überreizten Verkehr mit einem Gespenst. Die kleinste Empfindung wurde schon woanders empfunden, mit Hashtags, Begriffen und Geschichten versehen, derer sich die Gesprächsteilnehmenden freimütig bedienen.

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Die Literatur selbst gerät leicht zum Ratgeber. Ratgeber stiften die Illusion, fremde Erfahrungen ließen sich einverleiben, so als seien sie selbst erlebt. Die solcherart Illusionierten greifen voraus. Sie handeln überheblich wie Leute, die alles wissen könnten. Sie eignen sich Wortkonstrukte an und tauschen sie mit dem Gespenst – Konstrukte aus bunten Bauklötzchen (die irgendwie schon da waren).

So gerät Lernen zum potentiellen Kennen. Nicht mehr der Weg ist das Ziel. Bildung hat im eigentlichen Sinn mit Kennen-Lernen nicht viel gemein.

Auswendiglernen ist nicht Bildung

Wir müssten wieder Gefallen finden an der Unwägbarkeit. Wer sich traut, wer auch auf unsicherem Boden die Chancen erblickt, erlebt Teilnahme nicht als die Aneignung der bloß Einverleibenden, sondern als Utopie einer lebendigen Gegenwart. Ansprechen und Ansprechen lassen. Sein ist Ansprechbarsein.

An kaum einer Erzählung jedoch finden die Teilnehmenden unserer Zeit mehr Lustgewinn als an der Dystopie. Die Lust am Weltuntergang liegt in der Logik der Verbrauchenden. Sie herrscht durch die Furcht vor dem Verbrauchtsein. Für die Verbrauchenden gibt es kein Innehalten und keine Gegenwart, weil sie im vermeintlichen Stillstand Zeit und Ressourcen verlieren. Dystopisten folgen ihrem erwartbaren Hunger aus Furcht vor dem morgigen Mangel.

Die blutleere Lust am Weltuntergang

Dystopie ist Mangeldenken, Verkümmerung. Die Furcht vor Abgesang, Dürre und Untergang lässt sich nur besänftigen durch materielles Wachstum, denn es erbringt den sichtbaren Beweis, dass genau diese Furcht unberechtigt sei. Das Reden über die Angst gilt als Krankengespräch. Dort verhandelt man die schmutzigen Gegenstände, als seien sie kein lebendiger Teil von uns.

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Wir verhandeln Lebendigkeit wie einen Gegenstand. Wir betrachten Gegenstände als Objekte von Prozessen. Wir sehen Prozesse als zu optimierende Produktionswege. Wir produzieren Dinge, um sie zu verbrauchen, und gleichermaßen verbrauchen die Dinge uns. Kontrolle macht uns von Treibern zu Getriebenen: Die Denkmuster industrieller Optimierung sind längst verinnerlicht.

Private Denkmuster industrieller Optimierung

Die Denkmuster der Optimierung bedeuten eine Kapitulation vor der inneren Freiheit. Die Programme zum gesunden Verhalten bringen keine neue Ethik hervor. Compliance-Bestrebungen stehen in der Gefahr, zum Projekt sprachlicher Angleichung zu werden. Wir werden uns so verhalten, wie wir es sollen. (Und niemand weiß mehr so genau, wo die Quelle des Sollens eigentlich entspringt.) Nur der diffuse Unmut wächst.

Die unmutigen Weltbürger arbeiten sich im Gebirge des Absurden ab wie Gipfeltouristen, die erst durch ihr GPS erfahren, wo im Leben sie stehen. Vermeintlich unbeobachtet und halb-verlegen hinterlassen sie dort ihren Müll und erblicken in den Wundern, die sie umgeben, bloß ein Sinnbild des Geleisteten.

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In den Leistungspausen können wir vielleicht das Augenmerk auf unsere innere Verfasstheit lenken: damit wir die Besinnung – auf das Ich, auf das Du, auf den unwägbaren und mutigen Dialog – nicht als Ablenkung empfinden.

Letztlich sind wir ganz allein die Diebe unserer Gegenwart.

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