Geschlechterrollen sind Scham-Gehege

Psychotherapie und Erzählen, Teil 3

Nicht erst durch Corona wächst die lange Schlange derer, die Hilfe im therapeutischen Gespräch suchen, weil die gesellschaftlichen „Mechanismen“ das Verständnis vom Dialog verkümmern. (Photo by cottonbro on Pexels.com)

Der Roman „Wofür wir uns schämen“ zeichnet in fiktionaler Zeitraffer eine Persönlichkeitsentwicklung. Er ist eine geraffte Psychotherapie ohne Therapeuten: Wie fühlt sich Depression an und wie komme ich da heraus?

Gleich zu Beginn wird die in sich selbst gefangene Hauptfigur Gregor in die Außenwelt (der Erwachsenen) eingeladen, an einen Ort des Körperlichen. Das erzwingt gedankliche Vorbereitung, um den Sandkasten (der Kindheit) zu verlassen. Dabei macht Gregor eine unerhörte Entdeckung. Nicht nur er selbst ist verletzlich. Auch die Anderen sind es. Marie ist es: Mit ihr teilt er die Erfahrung der schlimmsten Stunde seiner Kindheit. Sie waren noch Kinder. Beide verletzlich und verletzt. Ausgerechnet jenes Mädchen steht heute als Frau vor ihm und kracht mit der Einladung in einen Swinger-Club in sein Leben. Das Wieder-Kennenlernen stellt die zwei Erwachsenen in denselben seelischen Sandkasten, in den sie in Kindheitstagen geworfen wurden, als die „helfenden“ Erwachsenen um sie herum nicht nur total versagten — die vermeintlichen Helfer waren noch diejenigen, die ihre Herzen versiegelten, in die sie zuvor den pechschwarzen Keim eines falschen Rollenverständnisses von Mann und Frau eingepflanzt hatten.

Die „helfenden“ Erwachsenen haben ihre Kinderherzen versiegelt, in die sie zuvor den pechschwarzen Keim eines falschen Rollenverständnisses von Mann und Frau eingepflanzt hatten.

„Wo getauscht wird, kann es keine Liebe geben. Ihr teilt jetzt diese Fahrt, weil ihr ein gemeinsames Schicksal teilt, und dieses große Wort Schicksal hat euch zusammengeführt, mal sehen, wie lange das noch hält. Bei Wolken musst du an Fallschirmjäger denken. Sie nämlich fallen aus Wolken heraus. Sie fallen aus wasserumsäumten Staubpartikeln heraus. Fallschirmjäger sind deshalb staubig, schon weil sie der tiefen Vergangenheit angehören, der weit entfernten Vergangenheit. Wenn man auf sie schießt, dann spritzt der Staub von ihren Uniformen. Sie geraten ins Trudeln, weil das Gleichgewicht gestört wird. Wenn sie ihre Wolke verlassen und einen Treffer erhalten, dann können sie ihren Fallschirm nicht mehr so gut steuern, vielleicht überhaupt nicht mehr. Sie sinken dann als Ballast am Fallschirm zu Boden und treffen auf, und wenn sie Pech haben, können sie den Schirm nicht lösen und werden vom Wind über den Boden geschleift. Hier zerfallen sie ohnehin zu Staub, und der Regen, der zu einem kleinen Teil auch aus Staub besteht, wird sie fortwaschen. Es bleiben die Schirme.“
Auszug aus: Tomas Blum, „Wofür wir uns schämen“

An dieser Stelle zielt der Roman auf eine gegenwärtige Realität der Heilpflaster, der verlogenen Übersprungs-Angebote, Ersatzbefriedigungen und Rollenspiele.

Denn es ist ja keineswegs so, als seien Gregor und Marie von einem anderen Stern, auf dem die Uhren anders laufen, während der Rest der Welt ausgeglichen in sich ruht. Nicht erst durch Corona wächst die lange Schlange derer, die Hilfe im therapeutischen Gespräch suchen, weil die gesellschaftlichen Mechanismen das Verständnis vom Dialog verkümmern. Das Zwiegespräch verkommt zum Tausch. Ein Tausch zwischen diversen Gefällen aus Information und Autorität: Reagiere auf Informationen. Reagiere auf Autorität. Reagiere (oder befehle). Verhalte dich. Und in diesem Kontext erhält die Scham ein ganz neues Gesicht, in dem die eigenen Geschichten ausgeblendet werden (müssen), weil es plötzlich nicht mehr um „seelische Gesundheit“, sondern „ums Funktionieren“ in Rollenkontexten geht. Wir lassen uns heute nicht beschämen? Dieser gigantische Irrtum unserer Zeit wird genährt durch ausgeklügeltes Marketing, das viele Gesichter trägt. Ein Rollenangebot ist immer auch Freiheitsberaubung. Auch (und besonders?) in einer permissiven Gesellschaft kann man sich deshalb des Eindruckes nicht erwehren, man sei unter die Räuber gefallen.

Gregor und Marie stolpern auf dem Weg in den Swinger-Club über die eigene Vergangenheit. „Wofür wir uns schämen“ ist ein Roman über gelingende Beziehungen und die Befreiung.

Gregor und Marie wollen aber keine Rolle(n) mehr spielen. Sie suchen das Exotische. Was sie suchen, ist nämlich das, was Martin Buber im Titel seines Werkes herauskondensiert als: „Ich und Du“.

Literatur ist keine Psychotherapie

Die befreundete Psychotherapeutin hat die literarische Figur Gregor für mich sogar auf die Analyse-Couch gelegt. Daraus resultieren für mich als Autor so viele Einsichten, für die ich besonders dankbar bin.

Es sollte weder in der Fiktion und erst recht nicht im Leben um Pathologisierung gehen. Es geht darum, „wach“ zu werden, nach außen zu treten, die Fühler auszustrecken. Der Roman „Wofür wir uns schämen“ ist ein Brennglas, das zeigt, was eine gelingende Begegnung bewirken kann – obwohl die Handlung bildlich in nur wenigen Tagen vorantreibt, wofür der (therapeutische) Dialog Jahre braucht.
„Wofür wir uns schämen“ ist eigentlich ein Liebesroman. Dieser Liebesroman thematisiert die innere Berührung, die durch den gelingenden Dialog entsteht und die letztlich die Liebe zum Menschen – und zum Leben selbst – erweckt.

(Neugierig geworden? Hier geht’s zum Buch.)

Psychotherapie und Erzählen, Teil 1 lesen?

Buchtrailer mit Nadja Schimonsky und Maximilian Wrede

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